Francesca Melandri las in Düsseldorf

Buchmarkt // 16.10.2018

„Eine solche Verquickung von Geschichte, Zeitgeschichte und Familiengeschichte auf allen Ebenen habe ich noch nicht gelesen.“

Als hätten es Selinde Böhm und Rudolf Müller geahnt, daß dieses Buch auf der Frankfurter Buchmesse zum Lieblingsbuch des deutschen Sortiments gekürt werden würde: Gleich am Montag nach der Buchmesse hatten sie die italienische Bestsellerautorin Francesca Melandri nach Düsseldorf ins Heinehaus eingeladen.

Was die Deutsche Bahn allerdings fast erfolgreich vereitelt hätte: Denn noch immer geht auf der Strecke Frankfurt-Düsseldorf nichts; und in Köln gab es gestern eine Geiselnahme, was den Hbf. zu No-go-Area machte. Aber professionelle Veranstalter kriegen auch dann keinen Herzinfarkt, wenn der Stargast erst fünf Minuten vor Beginn kommt… Mit Umweg über Neuss übrigens…

Erzählt wird in Melandris Buch Alle, außer mir (Wagenbach) eine Familien-und-Generationen-und-fast-Jahrhundertgeschichte. Ilaria, Lehrerin, links (was sie nicht abhält, heimlich eine Beziehung zu einem Abgeordneten der Berlusconi-Partei “Forza Italia” zu haben), hat gerade festgestellt, daß ihr Wagen wegen eines Staatsbesuchs von Gadaffi (2010) abgeschleppt wurde, steigt entsprechend gelaunt die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf, wo neues Ungemach lauert: da sitzt ein Äthiopier, der sich in akzentfreiem Italienisch als ihr neuer Neffe vorstellt. Und schon ist die bisherige Welt nicht mehr dieselbe, und das ist erst der Anfang. Denn der neue Verwandte stellt alle bisherigen „Familienwahrheiten“ in Frage.

Ihren 95jährigen Vater Attilio, der im Zweiten Weltkrieg Partisan war, kann sie nicht mehr fragen: er ist dement. Aber ihr schwant schon bald, daß das Bild vom lieben widerständlerischen Papa nicht stimmen kann. Aber sie weiß nichts, sie hat alle Familiengeschichten widerspruchslos hingenommen, nie groß hinterfragt. Dabei war doch schon einmal rausgekommen, daß Vater eine Zweitfamilie hatte, was den Kreis der Geschwister erweiterte. Wohl, wie sich jetzt zeigt, nicht zum ersten Mal… Denn nun kommt es heraus: Papa war mitnichten Partisan…

Mehr wird hier nicht verraten. Lange vor der sogenannten Flüchtlingskrise, nämlich vor zehn Jahren, hat Melandri mit ihren Recherchen begonnen, denn ihr war (im Gegensatz zu allen europäischen Politikern) klar: Da kommt etwas auf Europa zu. Nämlich die Ergebnisse einer europaweit verdrängten Kolonialgeschichte, die nicht selten die Geschichte von Massenmorden ist. Nicht in jedem Land aber ist der Name eines Massakerortes sprichwörtlich geworden wie in Italien, und wohl auch selten so unbewußt-zynisch: Mach kein Amba Aradam ist nämlich im italienischen Volksmund die Aufforderung, doch bitteschön mal auf dem Teppich zu bleiben: Man möge googeln, was hinter dem Begriff steckt. Und sich dann einen Moment überlegen, welche politischen Kräfte nach dem Zweiten Weltkrieg gewirkt haben müssen, um den Namen eines solchen Massakers als flotten Spruch dem allgemeinen Gebrauch unterzujubeln…

Und so drehte sich die Diskussion gestern Abend auch hauptsächlich um Politisches. Um Verdrängung von Geschichte. Oder, wie Melandri es nennt: das fröhliche Vergessen nicht nur des Faschismus. Insofern ist Matteo Salvini gewiß keine neue Erscheinung in der italienischen Flüchtlingspolitik: Was uns nicht auf die Pelle rückt, kann uns auch nicht unsere Verbrechen vorwerfen. Er ist nur ein bißchen weniger subtil.

Eine Zuhörerin brachte das Buch, das unter den politischen Diskussionen fast ein wenig zu kurz kam auf den Punkt: „Lesen Sie diesen Roman!“, rief sie in den bis auf den letzten Platz ausverkauften Saal. „Eine solche Verquickung von Geschichte, Zeitgeschichte und Familiengeschichte auf allen Ebenen habe ich noch nicht gelesen. Das allein macht dieses Buch einzigartig.“ Wohl wahr!

Ulrich Faure