„Eine Abrüstung in den Köpfen ist viel schwieriger als beim Waffenarsenal“

Am 12. April ist der Journalist Andreas Platthaus im Heine Haus Literaturhaus Düsseldorf zu Gast, um sein neues Buch „18/19 – Der Krieg nach dem Krieg“ vorzustellen. Im Vorfeld sprach die Rheinische Post mit Andreas Platthaus. Das Interview führte Lothar Schröder.

Was ist das Kriegsende 100 Jahre später für uns? Eine ferne Vergangenheit, die sich sorglos betrachten lässt?

Platthaus: Das, was vor hundert Jahren endete, war erst vor 99 Jahren vorbei, was den Krieg selbst angeht – denn erst der Friedensschluss von Versailles beendete ihn. Und richtig vorbei ist er bis heute nicht, weil die ganze politische Ordnung Europas, wie wir sie kennen, auf die Ergebnisse des Ersten Weltkriegs zurückgeht. Damals triumphierte das Prinzip des Nationalstaats über die multiethnischen Reiche – ganz so, wie es heute wieder zu beobachten ist, und die Grenzen in Ost-Europa mit all ihren Konflikten sind auch das Resultat von 1918/19. Deshalb ist Sorglosigkeit nicht die geeignete Haltung beim Betrachten dieser Ereignisse. Eher wäre es Sorge, weil so viel darin angelegt ist, was heute noch wirkungsmächtig ist oder es gerade wieder wird. Zumindest großes Interesse aber muss man für diese Phase der europäischen Geschichte aufbringen, ihre Folgen haben seitdem die Weltgeschichte bestimmt.

Warum muss Vergangenes immer wieder erzählt werden, auch wenn die Quellenlage sich nicht mehr groß geändert hat?

Platthaus: Weil sich die Erwartungen ans Erzählen ebenso sehr verändern wie die Voraussetzungen dafür. Wir haben Neues erlebt und agieren in anderen politischen Umständen als die Generationen vor uns. Das zu berücksichtigen ist wichtig, um die anhaltende Aktualität des Ersten Weltkriegs deutlich zu machen. Und auch die Erwartungen des deutschen Publikums an die Lesbarkeit historischer Studien haben sich gewandelt. Anschaulich sollen sie sein, erzählerischer. Deshalb ist es für mich mindestens so interessant, einen neuen Ton für angeblich altbekannte Geschehen zu finden, wie neue Quellen. Und die gibt es tatsächlich kaum mehr zu entdecken. Wobei ich mich immer wundere, wie wenig die allerersten Betrachtungen historischer Ereignisse, nämlich die unmittelbar zeitgenössischen Berichte in heutigen Darstellungen gewürdigt werden. Die sagen mehr über die Wirkung aus als spätere Analysen.

Was fasziniert Sie am Kriegsende, mit dem ja auch das Ende der Monarchie und die Gründung einer Republik verknüpft sind?

Platthaus: Mich fasziniert und erschreckt, wie die Demokratie als Mittel zum Zweck von den Vertretern der Monarchie eingesetzt und als Sündenbock benutzt wurde: erst, um den vom Kaiserreich verlorenen Krieg zu beenden, dann, um die Schuld für die Niederlage aufgebürdet zu bekommen. An diesem Geburtsfehler und der lebenslangen Belastung ist die Weimarer Republik zerbrochen, und das Übelste, was wir je gesehen haben, ist an die Macht gelangt.

Haben Sie während Ihres Schreibens für sich neue Einsichten bekommen?

Platthaus: Vollständig andere, weil die Zwangsläufigkeit historischer Prozesse plötzlich relativiert wird, wenn man sieht, wie leicht Entscheidungen auch anders hätten getroffen werden können. Und mich hat verblüfft, dass mit Einsetzen der Pariser Friedenskonferenz im Januar 1919 plötzlich keine zwei eindeutigen Seiten mehr im Krieg agierten, denn nun zerstritten sich die Alliierten, also die Sieger, über die Verteilung der Früchte des Sieges. Vom Weltkrieg kann man 1919 noch berechtigter sprechen als zuvor, denn nun lag die ganze Welt im Kampf miteinander, wenn auch – glücklicherweise – fast nur diplomatisch. Die Folgen allerdings waren umso schlimmer.

Vor allem die fatalen Verträge haben die Nachkriegszeit unruhig bleiben lassen. Waren daran die vielen Symbole von Sieg und Niederlage schuld?

Platthaus: Für die deutsche Rezeption waren die symbolischen Demütigungen der unterlegenen Partei verheerend. Man fühlte sich als Paria, und das verstärkte die schlimme Wirkung der Kriegsschuldparagrafen im Versailler Vertrag noch. Für die Siegermächte war die Inszenierung der Vertragsübergaben und Vertragsabschlüsse ein propagandistisch wichtiger Effekt gegenüber der eigenen Bevölkerung (vor allem in Frankreich). Aber angesichts der Verbitterung in Deutschland war das ein teurer Triumph. Fingerspitzengefühl hätte hier viel Feindschaft der Folgezeit verhindern können.

Warum hat es nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, der Urkatastrophe der Menschheit, wieder weltweite Kriege bis heute gegeben? Vielleicht muss man aus der Geschichte nicht immer gleich etwas lernen; aber man könnte ihr doch glauben.

Platthaus: Die Geschichte des Ersten Weltkriegs mündet in den Versuch, daraus etwas zu lernen – sprich: Wilsons Modell des Völkerbunds als Institution, die alle künftigen Kriege würde verhindern können. Die Konstruktion ist von geradezu mathematischer Schönheit, aber wie jede Formel brauchte sie alle beteiligten Variablen, um aufzugehen; und die wichtigste brach weg, als ausgerechnet die Vereinigten Staaten sich der von ihnen selbst konzipierten Nachkriegsordnung verweigerten. Daraus kann man lernen: Idealismus ist unrealistisch. Nicht einmal aus bösem Willen, sondern des komplexen Interessengeflechts wegen, bei dem keine Seite alle Faktoren berücksichtigen kann, und wohl am wenigstens die eigenen. Der Zweite Weltkrieg hat Etliches korrigiert, was der Erste Weltkrieg an Problemen hinterlassen hat – zu einem furchtbaren Preis. Aber der vorherige Krieg war nur formell beendet worden; in den Köpfen der Menschen herrschte der Kriegszustand fort. Das kann man lernen aus der Geschichte: Jeder Krieg radikalisiert das Denken, eine Abrüstung in den Köpfen ist viel schwieriger als beim Waffenarsenal. Ich habe wenig Hoffnung, dass diese Erkenntnis dazu beitragen wird, Krieg unmöglich zu machen. Aber ihn schon etwas schwieriger zu machen, weil man vor den Folgen zurückscheut, das wäre schon hilfreich.

Quelle:
Rheinische Post
http://www.rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/kultur/jeder-krieg-radikalisiert-das-denken-aid-1.7490262